Das Editorial

Aus dem aktuellen Familienblatt der Familie Nödeke

Liebe Familie,

als Hanns-Christian mich fragte, ob ich das Editorial für das Januar-Familienblatt schreiben könnte, kam mir sofort in den Sinn: Auf keinen Fall sollte es um Corona gehen, davon hat jeder in den Medien tagtäglich genug gehört und gelesen. Außerdem sehnt sich jeder danach, möglichst bald wieder zum gewohnten Leben zurück zu kehren und beispielsweise wieder zu reisen. Aber vielleicht ist als erster Schritt Spazierengehen oder Wandern schon eine Möglichkeit, aus der Enge der Wohnung rauszukommen und auf neue Gedanken zu kommen. Daher fiel mir als Thema für das Editorial ein:

"Zu Fuß gehen, um neue Blickwinkel einzunehmen"

Einige von Euch wissen, dass meine Frau Marion momentan an der FernUniversität in Hagen Kulturwissenschaften (KuWi) mit Schwerpunkt Geschichte und dem Nebenfach Literaturwissenschaft studiert. Dabei unterstütze ich Sie vor allem als Korrekturleser, aber wir suchen auch oft gemeinsam als Inspiration die "Orte des Geschehens" auf, zu dem Marion gerade eine Hausarbeit schreibt. Im letzten Semester ging es um eine literaturwissenschaftliche Hausarbeit, die sich mit Johann Gottfried Seumes Reisebericht "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" beschäftigte. Vor circa 220 Jahren machte sich der Sachse Johann Gottfried Seume auf zu einer außergewöhnlichen Wanderung, von der er in seinem erfolgreichsten und heute noch gut lesbaren Buch berichtete. Auf seinem circa 6.000 km langen, neunmonatigem "Spaziergang" von Grimma in Sachsen bis nach Syrakus auf Sizilien und zurück beschreibt Johann Gottfried Seume (1763-1810) nicht nur sein Reisevorgehen, die Reisestationen und die kulturellen Sehenswürdigkeiten in den besuchten Städten, sondern viele verschiedene Blickwinkel auf die Menschen und die Naturereignisse, denen er begegnet.

Im Sommer ergab es sich, dass wir das Museum www.goeschenhaus.de in Grimma (Sachsen) besuchen konnten. In dem Haus war Seume häufiger Gast seines Freundes, des Verlegers Georg Joachim Göschen (1752-1828). In Göschens Leipziger Verlag hatte Seume vier Jahre lang als Korrektor gearbeitet, um sich das Geld für seine Wanderung nach Syrakus zu verdienen. Die Museums-Führung u.a. durch ein "Seume-Zimmer" und das anschließende Fachgespräch mit dem Museumsdirektor waren eine große Motivation für Marion, sich in die in die Reisebeschreibung von Seume zu vertiefen und darüber eine analysierende Arbeit zu schreiben. Seume war ein Einzelgänger. Er eckte schnell an mit seinen sehr direkten und deutlichen Meinungsäußerungen, fand nicht den richtigen Draht um eine Familie zu gründen und ging als Individualist zeitlebens lieber auf Langstrecken-Wanderschaft, als hinter dem Schreibtisch zu sitzen. Dabei suchte er immer wieder gerne Aussichtspunkte auf, um von dort mit neuem Blickwinkel auf die Schönheit der Welt zu schauen, die er dann in seinen Büchern oft als "magisch" beschrieb. Seume hatte trotz seiner Marotten viele Freunde und pflegte seine Freundschaften intensiv als Ersatz für eine Familie. Und er hatte ein großes soziales Bewusstsein: legte den Finger in die Wunde, wenn er Armut und Not sah und versuchte zu helfen. Hier kommen meine Lieblingszitate von Seume, damit ihr auch einen kleinen Eindruck bekommt. Seumes bekannteste Selbstaussage ist:
Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt."


Pferde des Gestüts "Westerberg" auf dem Westerberg-Plateau bei Ingelheim am Rhein

Sein vehementes Bekenntnis zum Gehen beschreibt er mit: "Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft" und kritisiert die in der Kutsche sitzenden Reisenden mit "Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, man tut notwendig zuviel oder zuwenig."

Das Gehen verbindet sich für Seume auch mit der Möglichkeit der Ausübung von tätiger Nächstenliebe: "Schon deswegen wünsche ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht lange mehr leben." Und: "Nicht das Predigen der Humanität, sondern das Tun hat Wert. Desto schlimmer, wenn man viel spricht und wenig tut."
Seumes Selbstentwurf ist davon bestimmt, dass man sich nicht verbiegen lässt. Er möchte sich als unabhängige, freie Persönlichkeit behaupten. Diese Freiheit findet der vielschichtige Autodidakt und Einzelkämpfer Seume im "Gehen und dadurch mehr sehen".

Also: Ich nehme mir für dieses Jahr vor: bei all dem, was uns durch und mit Corona beschäftigt, ist es wichtig - sofern es möglich ist, immer mal rauszugehen und im Gehen und Sehen neue Blickwinkel zu bekommen.

Die Weite auf dem Westerberg-Plateau bei Ingelheim

Bei einem Winterspaziergang auf dem Westerberg, einem 250 Meter hohen Plateau oberhalb von Ingelheim, ist mir das schon mal gelungen: Der Blick in die Weite ist wunderbar, auch wenn es eher nur ein Hügel ist und wir konnten mit Corona-Abstand vielen Menschen begegnen, die sich auch an der Natur gefreut haben.
Viele Grüße, bleibt gesund (und "negativ" ;-)),

Euer

PS: Das Museum www.goeschenhaus.de ist ein Kleinod, dessen Besuch bei einer Museumsführung sich lohnt. Über die Online-Führung auf der Homepage kann man aber auch einen Eindruck gewinnen.
PS2: Wer Lust hat, selber mal ein Editorial zu schreiben, kann sich jederzeit gerne bei Hanns-Christian bzw. beim Vorstand melden. Wir freuen uns über neue Perspektiven und Blickwinkel ;-)


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